Die Mitternachtsbibliothek [Rezension]

 

"Ja, das ist das Schöne daran, nicht wahr? Man weiß nie, wie es ausgeht" 



Titel: Die Mitternachtsbibliothek
Autor: Matt Haig
Übersetzung: Aus dem Englischen von Sabine Hübner
Verlag: Droemer
Seiten: 318
Erscheinungsjahr: 2021
ISBN: 978-3-426-28256-4
Genre: Roman des Lebens
Art: fester Einband


"Ein Mensch war wie eine Stadt. Ein paar weniger wünschenswerte Aspekte durften nicht den Blick aufs Ganze verstellen.
(S.61) 

 

"Neunzehn Jahre bevor sie beschloss zu sterben, saß Nora Seed in der warmen kleinen Bibliothek der Hazeldene School in Bedford. 





Nora ist Anfang dreißig, totunglücklich und mehr als bereit, mit dem Leben einen Schlussstrich zu ziehen: Sie lebt immer noch in dem Kaff, in dem sie aufgewachsen ist, mit keiner Perspektive, sich weiterzuentwickeln. Mehr als das: Sie hat genug Anhaltspunkte zu glauben, dass sie für ihre Umgebung eine Last ist. Keine Beziehung mehr zu ihrem Bruder, sie verliert ihren Job im Plattenladen und dann stirbt auch noch ihre Katze. Ihr Nachbar, dem sie immer Medikamente gebracht hat, scheint auch Ersatz gefunden zu haben und zu allem Unglück trifft sie den besten Freund ihres Bruders, der ihr vorhält, für den unglücklichen Lauf all ihrer Leben verantwortlich zu sein, als sie sich damals entschlossen hat, aus der gemeinsamen Band auszusteigen, kurz vor dem großen Durchbruch. Weil sie Angst hatte. Angst vor dem Leben. So beschließt sie schließlich, zu sterben, mit einem Haufen Reue-Gefühlen in Petto. 

Um schließlich in der Mitternachtsbibliothek wieder zu erwachen. Dem Ort, an dem das Unmögliche möglich ist: Sie hat die Chance, in Paralleluniversen zu schlüpfen und der Frage nachzugehen: "Was wäre wenn...?" Vielleicht lernt sie so den Wert ihres Lebens und sich selbst besser kennen und ganz vielleicht bekommt sie eine zweite Chance.

"Vielleicht hätte sogar ein Suizid noch zu viel Aktivität erfordert. Vielleicht schwamm man in einigen Lebensvarianten einfach nur herum, ohne etwas zu erwarten und ohne auch nur den Versuch zu machen, irgendetwas zu ändern. Vielleicht waren so die meisten Leben.
(S.100) 



Ich wusste es! Ich habe seit langem auf ein Buch wie diesem gewartet und als es dann da war, hat es nach mir gerufen. Zum Glück habe ich es gehört! Schon der Titel und das Cover haben mir die Freundschaft angeboten, der Klappentext kam einer Liebeserklärung gleich. Jetzt rückblickend kann ich erleichtert sagen, dass ich nicht enttäuscht wurde.

Matt Haig schreibt mir aus dem Herzen. Ich frage mich, ob es irgendeinen Menschen gibt, der sich in diesem Roman nicht wiederfindet. Und wenn er existiert: Ist er zu beglückwünschen oder zu bedauern? Ich meine es ernst: Ich bin mir sicher, dass wir alle ab und zu düstere Gedanken haben und uns nicht vorstellen können, dass es auch bessere Zeiten geben wird. Und genau dieses Thema wird hier aufgegriffen. Manche haben diese Gedanken öfter als andere, aber früher oder später wird die Frage "Was wäre ich, wenn..." allgegenwärtig. Wir werden wehmütig und stellen uns uns in einem Paralleluniversum vor.
Wer gerne über das Leben philosophiert, der ist mit diesem Buch gut bedient.

Das Schöne dabei ist, dass Matt Haig zwar sehr belesen wirkt, aber Zitate nur zur Bereicherung, nicht zur Unterdrückung des Lesers einsetzt. Es ist gerade sein großes Erfahrungs-Repertoire, dass es ihm ermöglicht, in Worte zu fassen, was die meisten anderen nur denken können. Dafür hat er meinen Respekt! Die Verweise auf Philosophen, Theorien und Songs untermalen die grundsätzlichen Aussagen, nicht andersherum. Sehr angenehm!

Die Sprache ist sehr eindringlich wie man es vielleicht auch erwartet. Sie soll den Leser erreichen, nicht nur unterhalten und das ist auf jeder Seite bemerkbar. Deswegen ist sie zwar einfach gehalten, aber auf den Punkt. Es gibt viele interessante Bilder und Vergleiche, und ja: Es werden auch große Worte geschwungen. Aber es ist keinesfalls mit Weisheiten überladen. Diese Gefahr besteht bei diesem Genre ja immer.

Für den einen oder anderen mag es ins Pathetische abdriften. Auch ich habe mir deswegen Sorgen gemacht, besonders angesichts der ersehnten Auflösung. Letztendlich waren alle Sorgen unbegründet. Da auch Matt Haig nicht Gott ist und die Antwort auf ein glückliches Leben nicht gepachtet hat, kann er nur seine eigenen Erfahrungen einfließen lassen und dem Leser mitgeben. Die Reise, die die Protagonistin durchlebt, legitimiert jedes einzelne Wort, das in der Auflösung fällt. Ich bin mit dieser sehr zufrieden. Es ist so ähnlich gekommen, wie ich es mir ausgemalt habe und was sie mit der Message anstellt, muss jede Person für sich entscheiden.

Mich hat das Buch inspiriert und ich kann mir vorstellen, dass es besonders depressiven Menschen das Gefühl gibt, nicht allein zu sein. Es wird sie nicht heilen, aber zumindest zeigen, dass die Macht in einem selbst steckt und unendliches Glück nur eine Illusion ist, was übrigens auch für das Unglück gilt. Wer nicht an Paralleluniversen glaubt, wird dennoch ein Fünkchen Wahrheit für sich entdecken, man muss dafür nicht mal in die Quantenmechanik gehen. Und wenn das einzige, was man mitnimmt, nur ein positives Gefühl und Sonnenstrahlen im Herzen sind, dann war es das Lesen doch wohl wert, meinst du nicht?

Ich wurde für diese Rezension übrigens nicht bezahlt oder sonst wie honoriert. Ich bin nur eine zufriedene, X-beliebige Leserin, die gerade von einem aufregenden Ausflug in die Mitternachtsbibliothek zurückgekehrt und der Meinung ist, dass es mehr Bücher von dieser Art geben sollte.

Haydn
Chopin
The Beatles ~ Let it be
Rainy Days and Mondays
Simon & Garfunkel
The Cure
Frank Ocean
The Carpenters
Tame Impala
Bob Dylan
Sound of Silence



"Aber Druck formt uns. Wir beginnen als Kohle und der Druck presst uns zu Diamanten." 

(S.19.)

[...]

"Wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge beginnt man als Kohle und endet als Kohle. Vielleicht war das die eigentliche Lehre des Lebens." 

(S.19 f.)



Nach dem Lesen geht die Sonne auf!

"Ihr wurde klar, dass fast alles, was sie in ihrem Leben getan hatte- fast alles, was sie gekauft, wofür sie gearbeitet, was sie konsumiert hatte - , sie immer weiter von dem Bewusstsein weggeführt hatte, dass sie und alle anderen Menschen nur eine von neun Millionen Spezies darstellten."
(S.148)





"Ich kann ja nicht wissen, was gewesen wäre, wenn.
(S.125)





"Sie versuchte zu retten, was zu retten war, in den zwei Sekunden vor der Ankunft des Mannes, neben dem sie einerseits jede Nacht schlief und andererseits nie geschlafen hatte. Schrödingers Gatte sozusagen."  
(S.257)

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"Bibliothekarinnen verfügen über Wissen - sie führen einen zu den richtigen Büchern; zu den richtigen Welten; sie finden die besten Orte. Wie Suchmaschinen mit einer Seele.
(S.100)


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"Wer zu lange an einem Ort verweilt, vergisst die riesige Ausdehnung der Erde.
(S.156)

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"Aber er hatte lange genug gelebt, um zu wissen, dass alle Zeichen trügen und dass wir in unsrer Eifersucht, trotz ihrer hundert Augen, oft noch mehr in die Irre gehen als in der Blindheit unseres Vertrauens.
(S.168)

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"[...] aber vielleicht lag es nur daran, dass sie sich kein einziges Mal mitzureden traute. Sie fühlte sich wie eine Fahranfängerin, die an einer belebten Kreuzung nervös auf eine sichere Lücke wartet.
(S.162)


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"Es gibt einen singulären Punkt, an dem wir weder das eine noch das andere sind. Sondern beides. Lebendig und tot.
(S.169)


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