Léon und Louise [Rezension]

 


"Du kommst jetzt heim, mein Augenstern, ja? Sieh zu, dass du es zum Abendessen schaffst, es gibt Ratatouille" 



Titel: Léon und Louise
Autor: Alex Capus
Verlag: dtv
Seiten: 315
Erscheinungsjahr: 2012(2011)
ISBN: 978-3-423-14128-4
Genre: Roman des Lebens
Art: flexibler Einband

"'Wir werden jetzt keine Küsschen austauschen', sagte sie. 'Wir werden einander nicht um den Hals fallen, einverstanden? Wie werden keine tränennassen Gesichtchen bekommen und sie einander nicht gegenseitig abtrocknen, und wir werden keine Herzen in tausendjährige Linden schnitzen und uns nicht ewige Liebe schwören.
(S.134)  

"Wir saßen in der Kathedrale von Notre-Dame und warteten auf den Pfarrer. 





Man könnte sagen, Léon und Louise betreiben ein Katz und Maus Spiel durch die Zeit. Mit dem einzigen Unterschied, dass es nicht die Jagd ist, die sie antreibt, sondern die Liebe.
Léon ist nicht für die Schule und eine universitäre Laufbahn gemacht, weswegen er als knapp 17-Jähriger einen Job sucht. Es ist die Zeit des ersten Weltkrieges und so kommt es, dass ihm die Stelle eines Funkassistenten in einem Bahnhof eines anderen Städtchens in Südfrankreich angeboten wird. Er macht sich mit dem Rad auf die Reise. Und kurz vor der Ankunft vernimmt er auf einem Feldweg ein Quietschen: Ein quirliges Mädchen auf einem alten Rad düst an ihm vorbei. Louise. Ihre erste Begegnung. 
Mehr möchte ich noch nicht verraten. Lasst euch einfach treiben. Wir werden sie noch eine lange Zeit begleiten.

"Ich finde es längst nicht mehr schlimm, dass sich im richtigen Leben nicht jeder Traum verwirklicht; das könnte ja sonst rasch ein bisschen viel werden.
(S.185) 



Ich musste erst ein paar Tage verstreichen lassen, bis ich anfangen konnte, diese Rezension zu schreiben.

Mein erster Eindruck war: Die Geschichte kommt mir bekannt vor. Ich dachte, ich hätte sie schon mal als Film gesehen. Wie sich dann aber herausstellte, gibt es den noch nicht. Ein Zustand, der möglichst schnell geändert werden sollte, wie ich finde. Auf den Schreibstil werde ich gleich zwar nochmal genauer eingehen, aber er ist eindrucksvoll, sodass dem Leser automatisch ein Film vor Augen steht. Vom Stil hätte es tatsächlich auch ganz gut ein typischer französischer Film sein können.

Gleich vorwegnehmen möchte ich, dass eine Freundin von mir das Buch ebenfalls gelesen hat und noch viel begeisterter ist als ich. Sie hat mich dazu gebracht, das Buch endlich in die Hand zu nehmen und dafür bin ich ihr sehr dankbar.

Was hatte ich erwartet? Eine Liebesgeschichte mit Ups und Downs. Vielleicht auch sehr klischégeladen. Was habe ich bekommen? Eine Liebesgeschichte, aber nicht nur zwischen den beiden Protagonisten, sondern mit dem Leben selbst. Ja, es gibt Aufs und Abs, aber sie wirken hier nicht dramatisch, sondern sehr realistisch. Beide Liebenden zeigen ein Urvertrauen in das Leben und sich selbst. Sie haben keinen Anspruch, ein Leben in Poesie zu leben, sondern machen ihr eigenes, so wie es ist, zu ihrer besonderen Art von Kunst.

Interessant ist die Erzählperspektive: Zwar ist es ein neutraler Erzähler, aber trotzdem wird eine Sicht in die Gedankenwelt der einzelnen Charaktere offenbart. Der Erzähler gibt sich auch zu Bekennen und wendet sich zum Teil direkt an den Leser. Es ist zwar kein beeindruckender Fakt, wer der Schreiberling ist, da er aber Teil der erzählten Welt ist, möchte ich nicht spoilern. Was mir aber beim Lesen Kopfzerbrechen bereitet hat, ist der Umstand, dass der Erzähler auch so viele Dinge weiß, die er eigentlich gar nicht wissen kann. Auch nicht durch Tagebucheinträge. Manchmal stellt er auch nur Vermutungen an, aber durch die Art, wie er diese ausholend aufwirft, wirkt es dann doch wie ein unumstößlicher Fakt.
Das soll keinesfalls Kritik sein, sondern nur den paradoxen Charakter der Erzählung herausstellen. Ich habe auch mit der besagten Freundin darüber gesprochen und die hat das gar nicht gestört. 

Neben dem Schicksal der beiden Protagonisten, die von zwei Kriegen gezeichnet sind, werden auch politische und geschichtliche Umstände diskutiert. Das war umso interessanter, da wir uns ja in Frankreich befinden. Sonst lese ich über die NS-Zeit meistens aus deutscher Perspektive.
Auch ungewohnt, aber nicht unwillkommen, war in diesem Zusammenhang der heitere, hoffnungsvolle Grundton der Erzählung. Ähnlich wie Léon und Louise selbst es anmuten, legt auch der Erzähler ein gewisses Urvertrauen an Das Leben, á la es kommt schon so, wie es kommen soll, an denTag.

Was ich ein bisschen schade fand, war, dass ich im Gegensatz zu Léon keinen richtigen Zugang zu Louise finden konnte. Klar, sie ist eine sehr starke Person und etwas Besonderes. Etwas kalt und unabhängig, vielleicht auch dominant. Aber den Zauber, den Léon in ihr gesehen hat, den konnte ich leider nicht erfassen. Aber vielleicht ist es auch wichtig, dass er dieses Geheimnis selbst vor dem Leser bewahren kann... 

Nun zum Schreibstil. Hmm, wie soll ich das erklären? Ich denke, dass die zahlreichen hier aufgeführten Zitate es besser zeigen, als ich es beschreiben kann. Eine ganz besondere und schöne Note. Sie zeugt von einer sehr durchachten Art zu denken. Ganz klar: Es steckt ein verkopfter Mensch dahinter. Jemand, der sich über alles den Kopf zerbricht und gleichzeitig das Talent hat, den Nagel auf den Kopf zu treffen. Aber dafür mit dem Hammer ganz weit ausholen muss. Dadurch ergeben sich Gedanken, die mir auch bereits durch den Kopf geschworren sind und sicherlich niemand für sich gepachtet hat. Aber so klar vor Augen wie hier hatte ich sie nie. 

Besonders war auch die Art, mit der Vorausdeutungen gemacht wurden. Der Erzähler hat selbst kleinste Details so verkauft, als wenn sie teleologisch motiviert wären. Als gäbe es gar keine andere Möglichkeit, damit alles so endet, wie es endet.
Das Ende... Könnte das Leben selbst geschrieben haben, so wie es da steht.

Ein ganz besonderes Buch voller vieler einprägsamen Szenen. Und trotzdem denke ich immer noch, mir würde ein Puzzle-Stück fehlen. Vielleicht ist es aber auch einfach die Ehrlichkeit, die zwischen den Zeilen mitschwingt. Ich weiß nicht, ob ich an Léons oder Louises Stelle sein möchten, trotz dem Besonderen, was die beiden miteinander teilen.

Noch einen Punkt möchte ich thematisieren: Eignet sich der Roman für die Schule? Meine Freundin sagt: Nein. Denn was sollten die Jungs in der Zeit machen? Und was soll man im Unterricht besprechen? 
Ich bin mir nicht sicher. Der Schreibstil ist schon eine Kuriosität. Sicherlich könnte man Erzähltheorie an diesem Beispiel hervorragend thematisieren. Aber sie hat Recht: Entweder, man holt inhaltlich aus, oder lässt das ganze Buch weg. Die Schüler, vor allem mit den historischen Ereignissen, allein zu lassen, halte ich für keine gute Idee. Deswegen bietet sich eine Kooperation mit dem Geschichtsunterricht an.
Und allen männlichen Lesern möchte ich an dieser Stelle Mut machen, es doch einfach mal zu versuchen. Immerhin ist unser Protagonist auch ein waschechter Kerl. 

"Bald würden die Tage, die ihnen auf Erden noch blieben, immer rascher verinnen, und bald würde die Summe ihrer gemeinsamen Erinnerungen so groß sein, dass sie in jedem Fall tröstlicher war als jede Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes Leben ohneeinander.
(S.229)

 Edith Piaf
Georges Brassens
Jacques Brel
Lucienne Delyle ~ Sérénade sans Espoir



"Ihr nehmt euch die Freiheit allein schon deshalb heraus, weil sie eine Freiheit ist." 

(S.20)



Super liebenswürdiger Erzähler, aber der letzte Pfiff hat gefehlt!


"[...] und er kam zu dem Schluss, dass alles, was er in seinem Leben machte, nicht gut war; es war auch nicht schlecht, denn immerhin hatte er bisher keinen nennenswerten Schaden angerichtet, niemandem Leid zugefügt und auch sonst nicht viel getan, wofür er sich vor seinen Eltern hätte schämen müssen; aber wahr war eben auch, dass nichts von all dem, was er Tag für Tag machte, richtig wichtig, schön oder gut war. Und ganz gewiss hatte er keinerlei Anlass, auf irgendwas stolz zu sein."
(S.55)







"'Tja', sagte Louise. 'Da haben wir uns ein paar Jahre lang ziemlich nah beieinander die Hintern plattgesessen. Das nennt man Pech.'
(S.136)





"Frohe Ostern und auf Wiedersehen in Notre-Dame!"  
(S.8)

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"Da sie beide große und schwere Männer waren, hatten sie ein feines Empfinden für die Schwerkraft und wussten, dass die horizontale Lage dem Zustand des Schwebens am nächsten kommt, weil in ihr jedes Körperglied nur sein Eigengewicht zu tragen hat und von der Masse des restlichen Leibs befreit ist, während im Sitzen oder Stehen ein Glied sich auf das andere türmt und sich in der Summe eine zentnerschwere Last ergibt.
(S.19)

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"Ein sensationelles Mädchen war das gewesen.
(S.30)

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"In der Zwischenzeit hatte die Erde sich in die Dunkelheit gedreht. Am Himmel blinkten die ersten Sterne, der Mond war noch nicht aufgegangen. Ein paar schwarze Wolken trieben so niedrig über die Bucht, dass sie vom Blinksignal des Leuchtturms gestreift wurden.
(S.74)

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"Das ist etwas anderes. Wenn du oder ich uns langweilen, dann in der Hoffnung, dass sich irgendwann etwas ändern wird. Die dort aber langweilen sich, weil sie immerzu wünschen müssen, dass alles beim Alten bleibt.
(S.78)

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"Das Mädchen gibt es nicht mehr, Yvonne, so oder so. Es ist viel Zeit vergangen seither.
[...]
"Du musst das Mädchen suchen, ich befehle es dir."
(S.112)

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"'Eigentlich braucht man für die Reise zum Mond gar keine Rakete', sagte Louise. 'Man muss nur vier Stunden an Ort und Stelle bleiben.'
(S.149)

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"Wir riechen genau gleich.
(S.150)

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"Léon rasierte sich an jenem Morgen etwas sorgfältiger als gewöhnlich, zog frische Unterwäsche und seinen neuen Tweedanzug an; falls ihm etwas zustoßen sollte, wollte er im Krankenhaus, im Gefängnis oder in der Leichenhalle eine gute Figur abgeben.
(S.178)

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"Deine Familie ist für mich die fleischgewordene Möglichkeitsform, ein dreidimensionaler Konjunktiv Irrealis, ein säkulares Krippenspiel, lebensgroße Puppenstube - die den einzigen Nachteil hat, dass ich nicht mit ihr spielen darf.
(S.189)

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"[...] und natürlich nahmen weder Hitler noch seine Begleiter Notiz von meinem Großvater, der mit seinen drei Baguettes unter dem Arm auf dem Trottoir stand und fassungslos den Luftzug der Weltgeschichte an sich vorüberwehen ließ.

(S.207)

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"Er legte ihr den Arm um die Taille, und sie trug ihre friedlich schlafende Gedulsprobe, die nun für ein paar Jahre und Jahrzehnte bei ihnen zu Besuch sein würde, die Treppe hoch.

(S.249)

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"Aber leider leben wir beide nicht in der Historie, sondern hier und jetzt, und in der Gegenwart erscheint, was historisch womöglich bedeutsam sein wird, meist leider ziemlich banal.

(S.255)


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"[...] und verbat sich unnötig offene Worte, die ohnehin nur zu unwürdigen Dramen, falschen Versöhnungen und geheuchelten Treueschwüren geführt hätten.

(S.311)


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