Der Vorleser [Rezension]

 


"Was willst du jetzt? Dein ganzes Leben in einer Stunde?" 




Titel: Der Vorleser
Autor: Bernhard Schlink
Verlag: Diogenes
Seiten: 207
Erscheinungsjahr: 1997(1995)
Übersetzung: Aus dem Amerikanischen von Anja Malich
ISBN: 978-3-257-22953-0
Genre: Klassiker, Kritische Unterhaltung
Art: flexiber Einband

"Ich habe nichts offenbart, was ich hätte verschweigen müssen. Ich habe verschwiegen, was ich hätte offenbaren müssen.
(S.72) 



Michael Berg ist fünfzehn und geht schon seit einem halben Jahr nicht mehr zur Schule, weil er unter Gelbsucht litt. Auf einem seiner Heimwege muss er sich übergeben und trifft auf die hilfsbereite Hanna. Dabei springt ein Funke über, der dafür sorgt, dass die 36-jährige Frau dem Jungen nicht mehr aus dem Kopf geht. Um sich zu bedanken, steht er bald wieder auf ihrer Matte. Da sie nicht da ist, wartet er, bis sie nach Hause kommt. Sie arbeitet als Straßenbahn-Schaffnerin. Sie schickt ihn in den Keller, um Kohle zu holen, wobei er sich schmutzig macht. Sie lässt ihm in ihrer Wohnung ein Bad ein und steht auf einmal nackt hinter ihm, nachdem er aus der Wanne gestiegen ist. Die Affäre beginnt...
Niemand weiß davon. Nach oder vor der Schule treffen sie sich, fahren zusammen in den Urlaub. Sie liebt es, wenn er ihr vorliest und sie besteht darauf, dass er die Schule nicht vernachlässigt.
Doch von Harmonie ist nicht die Rede: Immer wieder stehen ihnen unausgesprochene Gefühle im Weg, z.B. Eifersucht. 
Und schließlich ist Hanna nicht mehr da. Erst viel später, im Rahmen von Michaels Jurastudium, sehen sich die beiden in einer Verhandlung ehemaliger KZ-Aufseherinnen im Gericht wieder...
"Man schätzt das Alter schwer, das man noch nicht hinter sich hat oder auf sich zukommen sieht.
(S.17) 




Ich habe schon oft Leute über das Buch reden hören, allen voran damalige Schulkameraden, die das Buch lesen "mussten". Das Feedback war nicht immer positiv. Worum es in seiner Gänze geht, war mir nicht klar und habe ich erst jetzt verstanden. Ich verstehe die zwiespaltigen Meinungen, denn das Buch schockiert wirklich. Es zwingt einen zu Gedanken, die man in der Art vielleicht noch nicht hatte, aus der eigenen Komfortzone hinaus. Wie hätte ich mich verhalten? Sind wir alle schuldig? Gibt es eine Kollektivschuld? Kennt Liebe Grenzen? Kann Liebe, wahre Liebe, jemals falsch sein? 

Der Erzähler, Michael Berg, lässt uns an seinen Gedanken, wohlgemerkt zehn Jahre später, teilhaben und so oft fühlte ich mich ertappt: Es mögen nur kleine, unbedeutende Gegebenheiten aus dem Alltag sein, aber ich wusste meistens sofort, was er meinte, welches unbeschreibbare Gefühl er versucht in Worte zu fassen.

Wir teilen mit Michael und Hanna viele intime Momente, aber durch den zeitlichen Abstand der Niederschrift wird Distanz geschaffen und außerdem werden die Szenen nicht wie ein Ablauf erzählt, sondern es werden eher bedeutende Details in den Raum geworfen, die man nicht mehr vollständig zusammenbasteln kann. Damit war ich mehr als zufrieden, denn wahrscheinlich gehöre ich wie ein Großteil der restlichen Leser zu der Fraktion, die die Beziehung ein wenig befremdlich findet und nicht nachvollziehen kann. Hat sich dieses Gefühl mit der Zeit gelegt? Nun ja, unser Protagonist geht sehr offen mit seinen Gefühlen um und wirkt sehr reif für sein Alter, schon mit 15. Deswegen war es nach den ersten Zusammentreffen der beiden nur noch eine ungewohnte Situation, aber nicht mehr befremdlich.

Hanna wirkte aber schon von Anfang an nicht sympathisch, was dahingehend gedeutet werden kann, dass zum einen die sexuelle Anziehung im Vordergrund steht und auf der anderen Seite erst rückblickend von dem Kennenlernen berichtet wird, wenn Michael Hanna selbst nicht mehr nahe steht. 

Als die NS-Thematik hinzukam, habe ich mir zuerst gedacht, es sei zu viel, weil die Beziehung an sich schon was zu kauen ist. Aber dann dachte ich mir, dass man im Leben ja auch meistens mehr als ein Gepäckstück mit sich rumträgt und es Hanna nur realer macht, wenn sie eine Geschichte hat. 

Mir gefällt ganz besonders, dass die Geschichte nicht mit Bilderbuch-Charakteren herausstechen möchte. Das Leben der beiden ist nicht perfekt, dafür aber sehr realistisch. Es könnte so wirklich passiert sein, weswegen ich das auch erstmal nachgelesen habe. Das ist aber offenbar nicht der Fall.
Was mich aber etwas gestört hat, war, dass so viele rhetorische Fragen in den Raum geworfen werden und zu sehr, meiner Meinung nach, für ein kollektives Schuldgefühl plädiert wird.

Ich bin überzeugt davon, dass sich das Buch sehr gut als Schullektüre eignet, allerdings lenkt die Thematik im Fach Deutsch vielleicht zu sehr von literarischen Gesichtspunkten ab, da die KZ-Thematik schon genug Diskussionsstoff bietet. Ich schlage vor, dass man es in Partnerschaft mit dem Geschichtsunterricht behandelt. Denn wenn man die Lektüre schon mit den Schülern durchnimmt, sollte man sie nicht allein stehen lassen. Das Buch verdient es, ordentlich auseinadergenommen zu werden.

"Und wenn ich nicht schuldig war, weil der Verrat einer Verbrecherin nicht schuldig machen kann, war ich schuldig, weil ich eine Verbrecherin geliebt hatte .
(S.129)



Kurzweilig, spannend und nachdenklich. Neuer Blickwinkel, der tief blicken lässt!

"Wenn man weiß, was für den anderen gut ist und dass er die Augen davor verschließt, muss man versuchen, ihm die Augen zu öffnen. Man muss ihm das letzte Wort lassen, aber man muss mit ihm reden, mit ihm, nicht hinter seinem Rücken mit jemand anderem."
(S.137)






"Manchmal hält die Erinnerung dem Glück schon dann die Treue nicht, wenn das Ende schmerzlich war.
(S.38)




"Was sind die Zeiten der Krankheit in Kindheit und Jugend doch für verwunschene Zeiten! Die Außenwelt, die Freizeitwelt in Hof oder Garten oder auf der Straße dringt nur mit gedämpften Geräuschen ins Krankenzimmer. Drinnen wuchert die Welt der Geschichten und Gestalten, von denen der Kranke liest."  
(S.19)

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"Wenn sie auf mir eingeschlafen war, im Hof die Säge schwieg, die Amsel sang und von den Farben der Dinge in der Küche nur noch hellere und dunklere Grautöne blieben, war ich vollkommen glücklich.
(S.44)

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"Geht das allen so? Ich fühlte mich, als ich jung war, immer entweder zu sicher oder zu unsicher.
(S.64)

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"Es ist ein philosophisches Problem, aber die Philosophie kümmert sich nicht um die Kinder. Sie hat sie der Pädagogik überlassen, wo sie schlecht aufgehoben sind. Die Philosophie hat die Kinder vergessen.
(S.136)

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"Beidem wollte ich mich stellen: Dem Verstehen und dem Verurteilen. Aber beides ging nicht.
(S.152)

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"Weil die Wahrheit dessen, was man redet, das ist, was man tut, kann man das Reden auch lassen.
(S.166)

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