Anna Karenina [Rezesion]


" Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich."





Titel: Anna Karenina
Autor: Lew Tolstoj
Verlag: Insel Taschenbuch
Seiten: 1207
Erscheinungsjahr: 1877/78
ISBN: 978-3-458-35184-9
Übersetzung: Herausgegeben von Gisela Drohla
Genre: Roman des Lebens, Liebe, Historienroman
Art: flexibler Einband






" Du weißt gar nicht, wie peinlich [...] es ist, allein zu essen.
(S. 165)








Russland, 19. Jahrhundert. Anna Karenina ist eine zufriedene, bezaubernde Frau und Mutter, bis sie bei einem Familienbesuch den Grafen Wronskji kennenlernt. Es ist Liebe auf den ersten Blick, doch kann sie seinetwegen ihren Mann und ihren geliebten Sohn verlassen?
Währenddessen hat sich eigentlich die junge Kitty Hoffnung auf den Grafen gemacht, während der unglückliche Lewin hinter Kitty her ist. Er schreibt landwirtschaftliche Bücher und hat selbst einen großen Betrieb, auf dem er immer wieder die gesellschaftliche Ordnung in Frage stellen muss.
Annas Bruder betrügt derweil seine Frau (eine ältere Schwester Kittys), während diese trotzdem weitere Kinder von ihm bekommt und die Familie immer wieder in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt. Anna redet mit seiner Frau, damit diese sich nicht trennt, weiß aber in ihrem eigenen Leben genau so wenig bescheid. Denn ihr Mann weiß von ihrer Affäre und versucht verzweifelt, es zu vertuschen, um seine gesellschaftliche Stellung nicht zu gefährden. Doch wie soll es weitergehen, als Anna schließlich des Grafen Kind im Leibe trägt?



" Früher, als ich ihn unbedingt für klug halten sollte, suchte ich immer nach seinem Verstand und dachte schließlich, ich sei wohl selber dumm, weil ich seinen Verstand nicht sah.
(S. 204)





Was für ein Klopper, denkt man sich. Ich habe erwartet, dass das Buch sehr langatmig wird und ich nur schleppend vorankommen würde. Für mich war das definitiv nicht der Fall! 
Das Buch hat mich in allen Bereichen positiv überrascht! Es ist eine der schönsten Liebesgeschichten, die ich je gelesen habe, denn sie wirkt realistisch, und dennoch nicht verbittert. Hier zeigt sich die Vielseitigkeit der Liebe, aber auch, wie sie sich mit der Zeit verändert.

Dieser Klassiker ist sehr ehrlich und nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht so ziemlich alle wichtigen Themen an: Politik, Gesellschaftskritik, Ehe, Frauenbild, Erziehung, Wirtschaft, Ständegesellschaft...  Wer sich vor dem Leben in seiner Vielseitigkeit nicht langweilt, wird wohl auch hier gut unterhalten sein!

Die Erzählperspektive ist höchst interessant: Meistens handelt es sich um eine Innensicht, also um einen personalen Erzähler, aber die Bezugspersonen wechseln ständig. Wir bekommen hier sogar die Gedanken eines Hundes vermittelt!
Durch die Nähe wirkt alles sehr echt, als würden echte Personen dahinterstecken, manchmal wirkt es wie eine Biografie. 
Der Perspektivwechsel vollzieht sich dabei schleichend.

Durch die vielen Details eignet sich das Buch als sehr gute historische Quelle über das Leben im 19. Jahrhundert in Russland. Es wurden echt sehr viele alltägliche Szenen beschrieben, die ich so noch nicht gelesen habe, als hätte es der Autor darauf angesehen, dass die Nachwelt was davon hat.

Was sprachlich auch sehr auffallend ist, sind die vielen französischen und englischen Floskeln. Das hat die Stränge aufgelockert und mir ein Schmunzeln ins Gesicht gezaubert, weil es dadurch so modern wirkte. Ich habe das Französische nicht übersetzt, aber es war auch so verständlich, denke ich. Vielleicht war es aber auch ein Geheimcode...
Aufgrund dessen würde ich behaupten, dass Zeitzeugen die besten Autoren von Historienromane sind (soweit dieses Genre dann überhaupt noch zutrifft), weil bei ihnen auch solche kleinen Details locker von der Hand gehen, als wären sie nichts.

Und die Figuren, die scheinen in all ihrer Echtheit doch irgendwie Karikaturen in einer Satire zu sein... Jeder für sich (besonders Stiwa, Annas Bruder, haben etwas Komisches an sich).  Tolstoj spielt mit ihnen.

Durch die kurzen Kapitel kam wirklich keine bedeutende Länge auf. Es gab auch inhaltlich immer wieder Wendungen, die man sich nicht ausgemalt hat. Am Ende habe ich mich gefragt, ob vielleicht jedes Detail letztendlich eine Bedeutung hatte... Besonders, weil die Sprache so bildreich ist!

Aber das, was mich an diesem Buch am meisten fasziniert hat, ist, dass hier kleine Dinge beschrieben werden, die den Figuren passieren, von denen ich dachte, dass ich die einzige Betroffene wäre oder dass nur ich die Dinge so sehen würde. Wie oft habe ich beim Lesen gedacht: Waas? Das hat sich auch schon jemand anderes gefragt? Das ist nicht nur mir aufgefallen? Das machen andere auch so? Das passiert nicht nur mir? Ich hab mich den Figuren verbunden gefühlt und so wirkten sie für die Lesezeit realer als so mancher Mensch, mit dem ich im echten Leben nichts gemein habe...

Letztendlich hat die Liebe hier eine schicksalsschwere, tragische Rolle und kämpft von Seite zu Seite um ihr Recht, unabhängig von Begriffen wie Macht, Vermögen und Ansehen existieren zu können.






" In der Liebe gibt es kein Mehr oder Weniger.
(S. 1031)




Es hat mich total überrascht! Dieses Buch ist ein eigener zeitloser Mikrokosmos, in dem alles geboten wird, was das Leserherz begehrt!



" Na, wie gefällt dir unser Tempel des Müßiggangs?
(S. 1021)








" Seit wir verheiratet sind, habe ich noch kein einiges Mal gedacht, daß es besser wäre, wenn es ansers wäre...
(S. 997)



Dich interessiert das Buch?




" So ein junges Ding, und schon so verdorben und kokett!.
(S. 1126)



Noch mehr Zitate:



" Auch die Art, wie die Kleine kroch, gefiel ihr sehr. Keines ihrer Kinder war so gekrochen.
(S. 915)


" Sie sah offenbar selbst, daß ihre Erläuterungen sehr unklar waren, aber sie fuhr damit fort, da sie wusste, daß sie gut sprach und schöne Hände hatte.
(S. 932)



" Ich will Liebe, und die ist nicht da. Also ist alles zu Ende.
(S. 1096)



" Und die Kerze, bei der sie das von Sorgen, Betrug, Kummer und Bösem erfüllte Buch des Lebens gelesen hatte, flammte heller auf als je zuvor, beleuchtete ihr alles, was bisher im Dunkel gewese war, knisterte, wurde dunkel und erlosch für immer.
(S. 1131)




Nach dem Reread (Herbst 2020)

Nach langer Suche habe ich endlich ein annehmbares Hörbuch gefunden und mich über zwei Monate von diesem Literatur-Koloss berieseln lassen (und ich hatte es schon auf 1,3 - 1,6 - facher Geschwindigkeit). Leider kann ich nicht behaupten, immer aufmerksam zugehört haben, aber ich denke, dass meine Rate gar nicht so schlecht war.
Es ist erschreckend, wie viel ich nach dem ersten Lesen schon wieder vergessen hatte, obwohl es mir so gut gefallen hat (und es ist erst ein Jahr her). Aber die Erinnerung kam schnell wieder hoch. Leider konnte ich keine weiteren Zitate notieren, denn wiedermal kam es nicht selten vor, dass ich mich durch die Beschreibungen Tolstois bei meinen eigenen Gedanken ertippt fühlte. Es lohnt sich definitiv, dieses Buch öfter zu lesen. Es erschließt sich immer mehr, wobei es mir jetzt weder besser noch weniger gefällt als letztes Mal. Ich habe aber das Gefühl. dass ich tiefer einblicken konnte und mir mehr Details aufgefallen sind. Tolstoi besitzt so ein Feingefühl für seine Figuren... Sie sind alle so liebevoll und authentisch gestaltet. Ich bewundere es, wie er ihnen ein Innenleben verschafft, in dem man sich mitunter selbst wiedererkennt. Und es gibt niemanden, für den man nicht doch Verständnis aufbringen kann, wie bei einer tiefen psychologischen Analyse.
Mir sind auch wiederkehrende Symbole aufgefallen, wie z. B. der des Bahnhofs, an dem Annas Unglück, wenn man so will, anfängt und endet.
Und an Philosophie und Politik wird auch nicht gespart. Reich, reich reich ist und macht es!

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