Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? [Rezension]

 


"Ich lebe in einer verwundeten Welt und ich weiß, dass ich die Wunde bin: Erde, die Erde mit Erde zerstört" 



Titel: Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?
Autor: John Green
Übersetzung: Aus dem Amerikanischen von H. Dedekind, F. Pflüger, W. Ströle, V. G. Topalova
Verlag: Hanser
Seiten: 316
Erscheinungsjahr: 2021 
ISBN: 978-3-446-27055-8
Genre: Sachbuch, Autobiographie
Art: fester Einband


"Ich glaube, dass wir gar nicht anders können, als der Welt Bedeutung zu verleihen. Wir sind kleine Feen, die überall ihren Bedeutungsstaub verstreuen. Dieser Berg soll Gott bedeuten und dieser Niederschlag Ärger. Das Vakuum des Weltraums bedeutet Leere und das Waldmurmeltier den Spott der Natur angesichts der menschlichen Absurdität. Wir schaffen Bedeutung, wohin wir auch gehen, und aus allem, dem wir begegnen. Aber auch wenn wir nicht anders können, können wir meiner Meinung nach doch entscheiden, was für eine Bedeutung wir etwas geben.
(S.235) 

 

"Es ist Mai 2020, und mein Gehirn ist dafür nicht gemacht. Immer öfter sage ich »es« oder »das«, ohne es zu benennen oder benennen zu müssen, weil das, was wir erleben, so außergewöhnlich und allumfassend ist, dass die Pronomen ohne Bezugswort auskommen





John Green verbindet sein eigenes Leben mit den großen Fragen der Menschheit: Was hat ein Teddybär mit Macht und Ohnmacht zu tun oder das Googeln mit unserer Endlichkeit? Mit seinem Blick für Seltsames, Wichtiges und Überraschendes bewertet John Green die menschengemachte Gegenwart auf einer Skala von 1 bis 5.
Das Anthropozän ist das aktuelle Erdzeitalter, in dem wir den Planeten grundlegend verändern. John Green versammelt Facetten dieser Epoche: Seine absurden, erhellenden und ganz persönlichen Funde spiegeln unser Leben mit allen Höhen und Tiefen. Ob Monopoly oder Pest, Klimaanlage oder Internet, Super Mario Kart oder Sonnenuntergänge.


"Einerseits sind wir viel zu mächtig, andererseits bei Weitem nicht mächtig genug. Wir sind zwar in der Lage, das Klima und die Biodiversität der Erde radikal zu verändern, aber nicht mächtig genug, um zu entscheiden, wie wir sie verändern, Wir sind in der Lage, die Atmosphäre unseres Planeten zu verlassen, aber wir sind nicht mächtig genug, denjenigen, die wir lieben, Leid zu ersparen.
(S.17) 




Was haben wir denn hier? Ein Sachbuch von John Green? Jein. Es ist eher eine Art Kommentar mit autobiographischen Zügen. Wobei es schon voller Fakten ist und man eine Menge lernen kann und es steckt mit Sicherheit eine Menge Rechercheleistung dahinter. Wer einen Coming-Of-Age-Roman erwartet, ist auf jeden Fall an der falschen Adresse. Wer aber mehr über einen seiner Lieblingsautoren auf diesem Gebiet erfahren möchte, der ist hier sehr gut bedient. Sehr ehrlich und humorvoll gewährt Green uns Einblick in das privateste und wertvollste, was ein Mensch hat: Seine Gedanken. Und es hat so gut getan, ihm in so vielen zustimmen zu können. Ich habe das Gefühl, dass er auf ähnliche Art denkt wie ich, nur seinen Musikgeschmack, den teile ich wirklich nicht. Eine begleitende Playlist lässt sich im Nachhinein auf jeden Fall zusammenstellen.

Die Themenauswahl fand ich im Groben gut getroffen, insofern ich nie gelangweilt war. Das muss man aber auch dem sehr talentierten und unterhaltsamen Autoren zugute halten. Was der Mann nicht alles für lustige und interessante Anekdoten im Petto hat. Und ich fand es wirklich sehr sympathisch, wie er auch sein Privatleben hat einfließen lassen. Jedes Kapitel handelte von so viel mehr Themen, als es die jeweilige Überschrift vorausdeutet. Sie ist gewissermaßen nur der Aufhänger. Es gab aber dennoch ein paar Kapitel, die ich weniger interessant fand. Insgesamt hat es sich zu sehr an das nordamerikanische Leben gewandt, um behaupten zu können, das ganze Anthropozän zu beurteilen. Das ist natürlich nicht verwunderlich, auch nicht die Subjektivität. Davon sollte man sich aber bewusst loslösen können, wenn man das Buch in die Hand nimmt. Die ausgewählten Themen sind random, genauso wie die wirklich coole Sternebewertung am Ende der Kapitel. Aber wie sollte man, ohne die gesamte Menschheitsgeschichte zu wiederholen, das Anthropozän zusammenfassen? 
Ich finde, Green hat es schon echt sehr gut gemacht. Mir viele Aha-Momente beschert und gute Gesellschaft geleistet. Ein Kapitel hat mich sogar richtig gerührt. Er bekommt dafür vier Sterne von mir.



"Es war einer dieser Tage, an denen dir klar wird, dass »Himmel«  auch nur ein menschliches Konstrukt ist, dass der Himmel dort anfängt, wo der Boden endet. Himmel ist nicht nur etwas ganz weit oben, sondern etwas, in dem dein Kopf die ganze Zeit schwimmt.
(S.239) 


 

You'll Never Walk Alone
Billie Holiday
He's Got the Whole World in His Hand
The Beatles ~ Octopus's Garden
Auld Lang Syne
Smooth Jazz
America the Beautiful
Back Home Again in Indiana
The Mountain Goats
The Mountain Goats ~ Jenny
The Mountain Goats ~ The Best Ever Death Metal Band Out of Denton
Palace Music ~ New Partner
The Universe is Weird



"Ich habe mein ganzes bisheriges Leben gebraucht, um mich in die Welt zu verlieben, aber seit ein paar Jahren kann ich es selbst spüren. Wenn man sich in die Welt verliebt, heißt das nicht, dass man über das Leiden hinwegsieht, sei es nun menschlicher oder anderer Art. Sich in die Welt zu verlieben bedeutet für mich, zum Nachthimmel faufzublicken und zu spüren, wie der Verstand angesichts der Schönheit und Ferne der Sterne ins Schwimmen gerät." 

(S.18)

 



Sehr inspirierend und sympathisch! Es ist aber auch nur eine subjektive Einschätzung des Anthropozäns, was man nicht vergessen sollte.

 

"[...] was für eine erstaunliche Erfahrung, auf diesem atmenden Planeten zu atmen. Was für ein Segen, Erde zu sein, die Erde liebt."
(S.288)







"Ich kann nur sagen, dass ich manchmal, wenn sich die Welt zwischen Tag und Nacht befindet, von dieser Pracht überwältigt bin und meine absurde Bedeutungslosigkeit spüre.
(S.112)








"Von daher sind die apokalyptischen Ängste möglicherweise ein Nebenprodukt unseres erstaunlich ausgeprägten Narzissmus. Wie soll die Welt den Tod ihres bedeutendsten Bewohners überleben - meinen? Ich glaube aber, es ist noch etwas anderes im Spiel. Wir wissen, dass wir aussterben werden, weil wir wissen, dass auch andere Arten ausgestorben sind."  
(S.25)

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"Mein Freund Stan Muller hat gesagt, dass man nie weiß, was die historische Periode bedeutet, die man selbst durchlebt. Ich lebe im Internet, und ich habe keine Ahnung. was das eigentlich bedeutet. Ich gebe dem Internet drei Sterne.
(S.101)


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"[...]was ihm an Flüssen so gut gefiel, sei, dass sie immer weiterflössen. Sie mäandern zwar hierhin und dorthin, aber sie machen immer weiter.
(S.106)

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"Ich glaube um Gott herum.
(S.111)

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"Das scheint mir das grundlegende Problem zu sein - nicht nur mit CNN und anderen Kabelnachrichtensendern, sondern mit unserem heutigen Informationsfluss ganz allgemein. Häufig weiß ich am Ende nur, was nicht so ist.
(S.142)


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"Ich finde, dass auch Hoffnungslosigkeit eine Art Schmerz ist. Einer der schlimmsten. Für mich ist Hoffnung keine philosophische Übung oder sentimentale Vorstellung, sondern eine Überlebenstrategie.
(S.147)


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"Dieses komplizierte Zusammenspiel der sogenannten Physis und der sogenannten Psyche erinnert uns daran, dass die Trennung von Körper und Geist nicht nur eine Vereinfachung ist, sondern totaler Blödsinn. Immer entscheidet der Körper darüber, worüber das Gehirn nachdenkt, und das Gehirn entscheidet ständig darüber, was der Körper tut und fühlt. Unser Gehirn besteht aus Fleisch, und unser Körper spürt Gedanken.
(S.155)


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"Wenn ich an der Krankheit der Einsamkeit leide, bringen mir schönes Wetter und gleißende Wolkenkratzer nichts, weder als Schriftsteller noch als Mensch. Ich muss zu Hause sein, damit ich arbeiten kann. Und, ja, zu Hause ist das Haus, in dem man nicht mehr lebt. Zu Hause ist das Vorher, und man lebt im Danach. Zu Hause ist aber auch, was man heute baut und instand hält, und ich schätze mich unterm Strich ziemlich glücklich, dass ich mich in der Nähe der Ditch Road häulich eingerichtet habe.
(S.177)


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"Meine Erfahrung hat mich allerdings gelehrt, dass alles, worüber man sich leicht lustig machen kann, bei näherer Betrachtung interessant ist.
(S.183)


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"Die Tatsache, dass unsere politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme den bereits Reichen und Mächtigen die größten Vorteile verschaffen, ist der Punkt, in dem das amerikanische Demokratie-Ideal am eindeutigsten gescheitert ist.
(S.197)


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"Wie Tuberkolose, Malaria und andere Infektionskrankheiten kann sich auch die Cholera im 21. Jahrhundert nur deshalb behaupten, weil die Reichen sich nicht durch sie bedroht fühlen.
(S.220)


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"Aber man kann die Geschichte nicht festhalten. sie weicht ständig zurück und löst sich auf, nicht nur in die unergründliche Vergangenheit, sondern auch in die unbestimmte Zukunft.
(S.283)


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