Lektion Nr. 10 [Erlebtes Leben]




Wir begleiten unseren Krieger in die Schlacht und kurz vorher sagt er uns, dass er unter bestimmten Bedingungen im Stande ist, den Feind zu besiegen. Glauben wir ihm?

Das hängt ganz davon ab, wie der Erzähler uns diesen Krieger verkauft, wenn ihr versteht, was ich meine.
Wenn er es gut macht, dann können wir nicht anders, als ihn als autonome, auktoriale Macht zu betrachten. Wir trauen ihm zu, selbstständig einschätzen zu können, zu was er in der Lage ist und darauf verlässt man sich dann gerne auch mal.

Mir ist das vor ein paar Tagen erst wieder aufgefallen, als ich Eragon las, dass ich ihm wirklich vor der Schlacht vertraut habe, dass er nicht nur danach noch leben würde, sondern darüber hinaus auch, dass er zum Sieg beiträgt oder jedenfalls die Konterzüge auch erbringen kann, von denen er vorher gesprochen hat.
Ich möchte jetzt nicht so genau darauf eingehen, ob das bei diesem konkreten Beispiel auch tatsächlich der Fall ist, um niemanden zu spoilern (haha) und auch, weil es nicht relevant ist.
Es geht nur um den Moment, indem du dir sicher bist, dass etwas bestimmtes eintreten wird, und zwar bevor es eintritt oder nicht.
Es ist ein schönes Gefühl, dass es jemanden in dieser Welt gibt, in die man gerade eintaucht, auf dessen Aussagen man sich verlassen kann. Es bringt einem die Welt ein Stück näher.

Diejenigen, die sich in der Literaturwissenschaft auskennen, werden sich jetzt wahrscheinlich an das Konzept eines unzuverlässigen Erzählers erinnern. Und ja, der kann nicht vorliegen, wenn wir den Charakteren Vertrauen schenken wollen. Es muss aber nicht immer der Hauptcharakter sein, der unseren literarischen Anker verkörpert. Oft sind es Autoritäten wie Wissenschaftler, Wahrsager, Hexen, Drachen und andere höhere Mächte.

Was bringt diese Anschauung jetzt? Ganz einfach: Ich möchte euer Bewusstsein anregen, damit ihr nächstens solche Situationen erkennt und es wertschätzt, wie viel Vertrauen ihr Charakter XY schenkt. Wenn das passiert, wächst der Handlung ein Stückchen Realität und Bedeutung in der eigenen Welt.

Wenn unser Krieger jetzt sagt, dass er in der Schlacht, die gleich stattfindet, genau weiß, wie er zu kontert hat, wenn ihn der böse Gegner angreift, er aber nachher nur ganz hilflos dasteht, werdet ihr ihm dann beim nächsten Mal nicht mehr glauben?
Nicht unbedingt! Manchmal passiert vorher noch eine Wendung, mit der euer Anker wirklich genauso wenig rechnen konnte wie ihr. Es gibt eben immer eine höhere Macht, ganz nach Aristoteles' Problem des dritten Menschen.
Als Kind vertraut man seinen Eltern z.B. auch blind. Wenn sie sagen, sie holen einen von der Schule ab, aber letztendlich kommen sie nicht, weil das Auto stehengeblieben ist, dann glaubt das Kind ihnen beim nächsten Mal wahrscheinlich trotzdem.
Sind sie nicht gekommen, weil sie es vergessen haben, wären sie in der Literatur tatsächlich zu einem unzuverlässigen Erzähler geworden.

Soll man jetzt zwanghaft irgendwelchen Charakteren vertrauen? Nein! Ihr werdet schon merken, wer vertrauenswürdig ist. Lasst dieses Gefühl zu, denn es kann zu große Spannungen vermeiden: Wenn der todkranke Protagonist sagt, dass er spürt, dass er stärker ist als der Krebs, dann glaubt einfach daran, wenn euch danach ist. Die nächsten Seiten werden so angenehmer und ihr verspürt lebensechte Hoffnung. Wenn er am Ende stirbt, habt ihr wenigstens alles dafür getan, euch auf das Pendant vorzubereiten.
So gestaltet sich das Lesen gleich viel lebendiger! 

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