Lektion Nr. 1 [Erlebtes Lesen]



Stell dir vor, du sitzt im Zug. Neben dir ist jemand in ein Buch vertieft und lacht sich schlapp. Du bist natürlich genervt, aber was tust du?

a) du ignorierst es 
b) du bittest ihn, leise zu sein
c) du nimmst dein eigenes Buch raus und lachst mit

Ich hoffe, dass am Ende dieser Lektion klar ist, welche Antwort das erlebte Lesen fördert.

Der richtige Moment zu lesen

Das Erste, was du unbedingt beachten musst, um das Lesen so würdig wie möglich zu gestalten, ist, dass es, wann immer dir danach ist, auch angebracht ist zu lesen. Das soll jetzt nicht so verstanden werden, dass du alles Wichtige links liegen lassen kannst, nur um dein aktuelles Projekt weiterzulesen. Wie wir im späteren Verlauf dieser Schulung noch feststellen werden, ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt des erlebenden, bewussten Lesens die Disziplin. Man kann sich das so vorstellen: Lesen ist in mancher Hinsicht ein Rauschmittel. Die einen geben sich ihrer Sucht hin, während die anderen ihren Konsum unter Kontrolle haben und es deswegen auch mehr und bewusster genießen können.
Wenn du das gelernt hast, wirst du das Privileg haben, wirklich immer wenn dir danach ist, zu lesen, aber du musst dafür deine Grenzen kennen, denn sonst wird es ausufern und du vergisst die Zeit. Ein tragischer Anfängerfehler! 
Das Schöne beim Lesen ist , dass auch wenn man seinem Verlangen mal nachgibt, keine Langzeitfolgen zu bemerken sind:). Aber du wirst merken, dass es auch etwas für sich hat, nicht so große Portionen auf einmal und vor allem nicht pausenlos zu lesen. So verminderst du die Gefahr, in eine Leseflaute zu fallen, die oft die Folge unkontrollierten Leseverhaltens ist.

Hier soll es aber nun darum gehen, den Wunsch zu lesen nicht zu unterdrücken. Besonders wenn du generell nicht oft liest, solltest du auf die leisen Anzeichen achten, die deinen Lesedurst verkünden. Verschwende sie nicht, denn je öfter du sie ignorierst, desto seltener werden sie sich zukünftig zeigen und dir wird eine Menge entgehen!
Was auch wichtig ist, ist, dass du bei aufkommender Leselust schnell handelst. Denn wie bei manch anderer Lust zieht auch diese schnell vorüber und was noch nerviger ist: Sie lässt generelle Unlust zurück. Ich stelle mir dazu immer bildlich vor, dass mein Verstand sauer ist, weil ich meinen Geist unterfordere und mein Geist traurig, weil er nicht wachsen kann.

Aber was ist, wenn es gerade nicht mit deinem Leben vereinbar ist? Du hast zum Beispiel gerade kein Werk zur Hand oder bist verhindert, weil du unterwegs keinen Sitzplatz erhalten hast oder zeitlich eingebunden bist. Dafür habe ich eine Lösung, die mir selbst dann immer geholfen hat: Denke über das Buch nach, das du gerade liest oder überlege dir, was du als Nächstes lesen willst. Überlege, was als Letztes passiert ist. Das bestärkt die Vorfreude und kann deine Leselust im Idealfall konservieren. Manchmal hilft es aber auch, wenn man gegenteilig jeden Gedanken an das Buch meidet, wenn man z.B. dazu neigt, schnell gesättigt zu sein. Du musst für dich herausfinden, was bei dir besser wirkt.

Also halten wir fest: Du hast Lust zu lesen? Dann tu es einfach. Denn meistens, seien wir mal ganz ehrlich, wäre es in diesen Momenten doch einrichtbar. Andernfalls hätten wir wahrscheinlich gar keine Zeit ans Lesen zu denken. Manchmal kann Lesen auch ein Motivator für andere Dinge sein, die wir nicht gerne machen, aber machen müssen. Wenn wir z.B. vor einer Hausarbeit sitzen und denken, dass wir jetzt viel lieber lesen würden, dann sollten wir es nach dem Lustprinzip einfach tun. Nachher wird es uns leichter fallen, die Aufgabe anzugehen. Doch Vorsicht! Nur ein erfahrener Leser hat die Disziplin! Du kannst es lernen. Aber um die belebende Bewirkung des Lesens auf andere Bereiche soll es in einem anderen Kapitel gehen, in dem wir uns mit der heilenden Wirkung generell beschäftigen werden.


Das richtige Verhalten Lesenden gegenüber

Im zweiten Teil dieser Lektion soll es darum gehen, wie man sich anderen gegenüber verhalten sollte, die lesen. 
Nun haben wir bereits die Rolle des Lesens aus Perspektive eines Lesenden thematisiert. Jetzt wollen wir uns der Perspektive eines stillen Beobachters zuwenden. 

Die erste goldene Regel, die ich dir mit auf den Weg geben möchte, ist, dass man einen Lesenden nicht stört. Wir wissen ja jetzt bereits, welche Überwindung es für manch einen kosten mag, ein Buch überhaupt erst in die Hand zu nehmen und wie selten jemand anderes zu seinem eigenen Bedauern die Zeit zum Lesen findet. Das wollen wir Ihnen nicht kaputt machen. 

Wie der Schlaf lässt sich auch das Lesen in verschiedene Phasen unterteilen. So gibt es eine Tieflesephase, doch diese macht im Gegensatz zu der Leichtlesephase nur einen verschwindend geringen Teil aus. In der Leichtlesephase sind wir sehr leicht abzulenken und bekommen mit, was um uns herum passiert. Das kann sehr wichtig sein, denn wenn wir z.B. Bus sitzen und lesen, dann wollen wir natürlich unsere Haltestelle nicht verpassen. Wenn du viel Erfahrung gesammelt hast, kannst du noch in eine weitere Lesedimension gelangen, in der du Tief- und Leichtlesephase miteinander vereinbaren kannst (das ist aber keine Art von Multitasking, werden wir auch noch thematisieren). Worauf ich hinaus will: Du kannst die Lesequalität eines Lesenden stark durch dein eigenes Handeln und Wirken beeinflussen, also lass es lieber! 

Wenn der Lesende es geschafft hat, seinen Lesevorgang in höhere, emotionale Sphären zu katapultieren, dann solltest du ihm Respekt schulden und keinen Hohn. Jemand, der über ein Buch in der Öffentlichkeit laut lachen kann, der hat es geschafft, in das Buch einzutauchen (durch diese Schulung wollen wir uns daran annähern) und demonstriert das erlebte Lesen in einer seiner schönsten Ausführungen. Möglicherweise hat das Lesen für ihn eine heilende Wirkung (Stressabbau, Ablenkung,...) oder dient ihm in diesem Zeitpunkt als  Motivator. Du solltest nicht eingreifen!

Wenn du aber weißt, dass der Lesende seine Sucht nicht mehr unter Kontrolle hast, dann darfst du ihm helfen, wieder aufzutauchen.

Also, lieber Bücherfreund, wenn du das nächste Mal im Zug sitzt und jemand weint in die Seiten, dann lass es geschehen und tu selbst, wonach auch immer dir gerade ist. Verspürst du Leselust, dann hau rein, aber in Maßen ;).

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